Berlin-Protokoll: Bürgeramt

Dieses ist mein 20. Text in 2023, den ich im Rahmen einer Recherche der Arbeitsgemeinschaft Minimales Reisen mit geschrieben habe. Berlin an unterschiedlichen Plätzen, unterschiedlich interpretiert. Weitere Informationen zu diesem Format sind unten auf der Seite nachzulesen *).

13:06
Jetzt, wo ich das Datum schreibe, 19.12., erinnere ich mich wieder genau an den Tag, als mein Vater starb, hatte das eben beim Herfahren ganz vergessen. Es war 1986 und wir wußten, dass es schlecht um ihn bestellt war. Ich war Berufsschullehrerin, es war der letzte Tag vor den Weihnachtsferien. Und – pflichtbewußt, wie ich nun mal war, meinte ich, ich müsse unbedingt noch den letzten Schultag machen. Was für ein Quatsch. Seither gibt es für mich nur noch jetzt und nicht dann und wann! Ich war zu spät. Egal, wie lange es zurückliegt, es fühlt sich an, wie jetzt.

13:09
Dieser kleine Exkurs musste sein, bevor ich meine Aufmerksamkeit den Bürger:innen und Mitarbeitenden widme. Ist eigtl schön hier, besser als bei der Zulassungsstelle, also … heller. Von links, Platz 16/15/14/13, verlässt eine junge Frau das Büro.
Ding dong 

13:11 
Rechts hängt ein großes Display mit den Aufrufen an der der Wand. Vor uns in der Ferne, hängt noch ein Aufrufdisplay, die Halle ist groooooß.  Ich lese nur kurz 446608 Terminkunde Platz 14, da geht aber keiner rein, in das Büro direkt neben unserem Sitzplatz, es kommt aber ein Mann heraus.  Eine Frau mit einer Krücke und einer Mütze auf dem Kopf, verlässt ebenfalls das Büro.

13:12 
Ding dong, 199376 zu Platz 13. es geht keiner rein, es kommen nur Leute raus, alles sehr übersichtlich hier. In einer lichtdurchfluteten Halle stehen links und rechts jeweils rote 3er  Bänke, ungefähr 8 auf jeder Seite, also 8×3, Platz für ca. 20-25 Leute.

13:14
Das Getrappel von hohen Schuhen … , eine Mitarbeiterin geht in den Bereich hinter der Tür.
Zweimal Ding Dong, und dann gleich nochmal Ding dong, ganz schön viel los hier. Mein Parfum ist ganz schön laut, ich rieche es selber.

13:15
Vorne eine großes Schild unter der Decke mit Information und ja, da gehen Leute rein, gerade aus und rechts sich. 

13:17
Kontrollierte Bewegungen, ein älteres Ehepaar, mit Masken bekleidet, wurden aufgerufen, sie klopfen vorsichtig an die Tür links von uns, bevor sie eintreten, eine junge Bürgerin mit Kruschelllocken kommt heraus. Ich denke, ob wohl nur links was los ist?. Ach, ich würde jetzt auch gerne da mal hinter die Tür schauen, vllt müsste ich mal meinen Pass verlängern. Aber im Moment liegt kein Bürgerbegehren meinerseits an.

13:18
Rechts , eine Bürgerin verlässt Platz 1, eine andere Terminkundin geht hinein. Rechts siehts anders aus, wie Einzelzellen .

13:19
“Der Lappen geht, die Karte kommt”, steht auf einem Plakat an der Wand. Musste ich letztes Jahr machen lassen und mein alter Lappen war wunderbar, viel schöner als die Karte jetzt. Ich kann sie kaum unterscheiden vom Personalausweis.

13:21
Hinter uns höre ich Handygeräusche, wenn man den Screen herunterzieht, dann gibt es einen speziellen Ton. Dann ein richtiger Rufton, jemand versucht jemand anzurufen. Ich sehe nicht, was hinter uns ist. 

13.22
Neben uns ein alter Rocker, grauer Rauschebart, Camouflage Hose, den könnte ich mir gut beim Rock Festival vorstellen, Wacken heißt das ja.

13:23
Ding Dong, hört gar nicht mehr auf. Die haben viel zu tun, die Menschen vor und hinter den Toren. Menschen, wie du und ich, ein Stück Berlin, wie ich es kenne und wie es mit vertraut ist.

13:24
Ding Dong zweimal , jemand steht hinter der Tür links von uns, er ist am Hinausgehen, er spricht aber noch mit den Mitarbeitenden. Scheint auch ne gute Atmosphäre zu sein.

13:25
Wenn jeder käme, wann er wollte, wäre hier vllt Chaos. Man will offenbar das Chaos vermeiden.

13:26
Warum ist auf der Anzeigetafel rot und schwarz aufgeteilt? 3 Terminkunden rot, zwei schwarz. Jetzt klingelt es auch noch bei S.  Ich mag diese kontrollierte Bewegung , besser als unkontrolliertes Durchnander. Und wieder Ding Dong , ein Paar läuft zügig zur Tür  Platz 1, ob sie vllt heiraten wollen?
19.12.2923
https://minimalesreisen.de/parallelprotokolle/

*) Diese Aufzeichnung ist mein Part, die entstand im Rahmen einer Recherche der Arbeitsgemeinschaft Minimales Reisen. Mehrere Mitschreibende haben jeweils an einem ausgewählten Ort des alltäglichen Lebens zwanzig Minuten lang das umliegende Geschehen protokolliert – und das, was ihnen dabei durch den Kopf ging. Im Anschluss an die Schreibphase werden die einzelnen Protokolle minutenweise ineinandergefügt, so dass chronologisch durchgehende, mehrstimmige Texte entstehen. Diese werden dann sortiert, verlesen, übersetzt und gedruckt. An dem offenen Format nehmen anonyme Schreiber:innen mit und ohne künstlerische Hintergründe teil. Die AG Minimales Reisen lädt jede:n zur Teilnahme ein und dankt allen Mitschreibenden und der kunsthallebelow.de Die fertigen Editionen bestellen.

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