Berlin-Protokoll: Eis auf See

12:55
Meine Brille beschlägt. An meinem schwarzen Loop baumelt noch ein langer Faden herunter,  den müsste ich mal weiter vernähen oder einfach abschneiden und schon juckt es mich im Gesicht 
12:56
Wir sitzen direkt am See, fast berühren die Füße das zugefrorene Wasser bzw. Eis. Manchmal fürchte ich, ich würde hineinrutschen. In naher Ferne höre ich das Bohren eines Bohrers an der Baustelle links gegenüber von unserem Platz. Ein großer Kran ragt auf den See. Vielleicht könnte er jemand herausziehen, wenn einer auf dem Eis einbrechen würde, Immer wieder überprüfe ich meinen Sitz, damit ich auch sichergehen kann, nicht abzurutschen Während meines Denkens, fällt mir ein Schneebällchen auf den Kopf und erschreckt mich, dabei landet es auf den Boden. 
13:00
Ich nehme die Zettel aus meinem Buch, damit sie nicht heraus fallen. Das ist ein Geschenk von N., das ich  letztes Jahr geschenkt bekommen habe und ich schreibe sogar mit dem dazugehörigen Stift. Schreibt sehr gut und meine Schrift ist auch gut. Ganz leicht laufen die Buchstaben aus dem rechten Arm über die rechte Hand auf die linke Seite meines Buches Ich entdecke eine Notiz mit dem Motto dieses Jahres StoffwechselJA.
13:02
Mir ist warm, ich schaue auf den zugefrorenen See, Blasen, Bläschen auf der Oberfläche,  traue der Fläche nicht so ganz,  da war auch noch keiner drauf. Ich schaue auf die silbern glänzenden Plastikverpackungen von Riegeln, die jetzt wie in Epoxid hier im Wasser eingefroren sind. Schade,  sieht alles so schön aus, aber gut, –  auch der Müll ist schön. Gibt er doch dem Wasser eine wahrnehmbare Tiefe, also mehr Tiefe.
13:04
Es ist hier sehr flach. Blätter am Meeresgrund, rechts ein Baum am Ufer, der sich am Boden festhält. Ein großer Astableger ragt weit über das Wasser / Eis. Es ist so ein Zwischenzustand, ist kein fließendes Wasser und kein festes Eis. Das Bohren von der Baustelle überlagert meinen Blick auf den See.
13:06
Da läuft etwas, vielleicht ein Blatt, wie an einer Perlenschnur, über die Oberfläche und kommt zum Stehen, oder besser: Liegen. Ein Schwan erhebt sich schwer von rechts, seine Flügel sind riesig, er fliegt nur wenige cm über der Eisfläche auf die gegenüber liegende Seite. Behäbig sieht das aus. Grazie wäre anders.  
13:08
Über uns die Stimmen von Kranichen. Vielleicht kommen sie aus Linum, mal laut und deutlich hörbar, dann wieder ganz ruhig. Das Bohren hört auf, es ist kein Mensch hier weit und breit. Ich schaue auf das Geschreibe meiner Mitschreibenden, schön anzuschauen. Handschriften sind so einzigartig, vielleicht wie die Oberflächen von gefrorenen Seen.
13:10
In der Mitte des Sees scheint ein Ball eingefroren zu liegen. Uns gegenüber schwimmt der Schwan jetzt auf einer kleinen Fläche am Ufer des Wassers.
13:11
Im Sommer hätte ich sicher schon längst meine Füße in den See gehalten.
13:12
Ob ich auch Schlittschuh laufe? – fragt eine imaginäre, innere Stimme. Nein, antworte ich. Das ist mir zu glatt. Ich bin immer mit Gleitschuhen im Schnee unterwegs gewesen. Schlittschuh fahren hatte ich probiert, aber ist zu glatt.
13:13
Es sieht eigentlich nicht zugefroren aus, spiegelglatt. Meine Knie knacken, und ich spüre meine Anspannung lässt langsam nach, meine Füße stehen noch etwas verkrampft am Boden, bloß nicht abrutschen.
13:14
Ich denke an mein Anagramm  von Eis,  wie SEI wie SIE,  vorwärts rückwärts seitwärts ran –  und es gibt eine Pornoseite vielleicht die NachfolgerSeite von Beate Uhse, die heißt auch Eis. Heute ist ja alles anders. Ich meine hier aber EIS wie Schnee und nicht wie Wasser, dabei ist alles Wasser mit unterschiedlichen Aggregatzuständen.
13:15
Hinter uns höre ich noch die Autos. Es ist nicht leise am Schäfersee.

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