Protokoll: 22022002317021722_Pflastersteine | BVG U9
Der nachfolgende Text ist ein Teil des Parallelprotokolls. Die fertige Edition kann bei hier erworben werden werden.
17:02
Ich sitze auf dem kleinen Höckerchen, etwas unbequem, in einer Reihe mit S. und A., auf den Fliesen vor den Studios mit Blick auf das Pflaster, die Pflastersteine.
17:03
Ich schreibe wieder in meinem neuen MacBook Air mit Kuli auf Papier. S. tippt eifrig neben mir, A. auch. Sollte ich da doch noch neidisch werden?
Der Kaffeeduft drängt sich auf, ich habe ihn gerade gekauft in einem Coffeeshop, direkt neben dem Rathaus Wedding, sehr skurril der Laden und mega trendig, tolle Atmosphäre. So laut, das Kaffeearoma, dass ich mich gar nicht auf die Pflastersteine einlassen kann. Der Kaffee soll als Geschenk für M. sein. Ich möchte ihr eine Kaffeepause schenken, z dem Kaffee, kauf ich ihr noch Baklava, die kann man verschicken und sie sollen ca. 14 Tage halten, sagte mir der freundliche türkische Verkäufer. Gerne würde ich ihr auch Zigarettentabak dabei legen, aber ich kenne ihre Marke nicht. Weiß noch nichtmal, ob sie Bohnen bevorzugt oder doch auch gerne den gemahlenen Kaffee verwendet. Am Abend trinkt sie immer alkoholfreien, äh, koffeinfreien Kaffee.
17:05
So langsam arbeite ich mich gedanklich frei und nähere mich den Pflastersteinen, aber sie ziehen mich nicht, obwohl ich so dicht an ihre dran bin, sitze ja schon fast drauf. Betreten tue ich sie nicht, meine Füße stehen auf dem Fliesenboden, also Betonfliesen. Alles andere als gemütlich. Ursprünglich dachte ich bei Pflaster auch an Hansaplast, aber war nur gedacht, es war jetzt hier gar nicht wirklich, nur in meiner Vorstellung. Hinter uns geht eine Frau, spricht am Handy „Wie gehts Dir? Was machst du Schönes?“, – auch wieder etwas, das meine Aufmerksamkeit von den Steinen abzog. Gleichzeitig rollte jemand laut einen Rollwagen, Koffer oder was auch immer über den Bürgersteig.
17:07
Ich atme mal durch, fühlt sich schwer, aber frei an. Dann höre ich wieder das Tippen meiner Mitschreibenden. So, nun aber mal wirklich zum Pflaster, zu den Pflastersteinen. Und schwups, schon kommen zwei Kerle hinter uns vorbei, dann noch ein junger Vater mit seinem Kinderwagen. Was hinter mir geschieht, zieht meine Aufmerksamkeit viel mehr an. Die Tür des Nachbarhauses geht auf. Macht nix.
Die Pflastersteine rufen so gar nicht. Wieder kommt eine Mutter mit ihrer jungen Tochter vorbei, sie fragte „Mama, was machen die da? – ich weiß es auch nicht“. Und weg waren sie. Gestern ist ein 5-jähriges Mädchen ermordet worden von ihrem Kindermädchen, der in diesem Fall ein junger Mann war. Nicht weit entfernt von hier.
Die Pflastersteine sehen so zerfleddert aus, zwei große Löcher, Steine auf Sand, gelöst von den anderen. Die meisten sind klein und liegen wohl geordnet zwischen Hauswand und Fliesenspiegel, vielleicht auf einer Breite von 80 cm. Ich frage mich, woher die Löcher da wohl kommen? Die kommen nicht einfach von allein, als habe sie jemand hoch genommen, heraus genommen.
17:10
Ganz schön viel los hier, ein gewöhnlicher Mittwoch Nachmittag im Wedding auf dem Bürgersteig. Im Schaufenster ein Foto, ein kleines Bild, sicherlich ein Kunstobjekt mit einer Frau in zwei Ansichten auf der Heizung stehend.
17:11
Meine Füße stehen verkrampft auf dem Boden, sie verlangen nach Korrektur. Ich niese. Und ich spüre mein linkes Schulterblatt, tut weh, schon länger.
17:12
Zwischen den Pflastersteinen ist Dreck, ein Sammelplatz für Unrat, Asche, Sand, sieht ungepflegt aus. Fast tun sie mir ein wenig leid, die Steine, sie werden getreten und benutzt.
17:14
Wenn sie da so aufgerissen liegen, … ob sie dann wohl repariert und wieder neu verlegt werden? Wer macht so was? Die Stadt? Die Hausverwaltung? Mit M. Wäre ich schon mit einer Tüte losgegangen und hätte sie aufgesammelt. Er würde sie brauchen und liebevoll verlegen, so, wie er dieses hübsche Rondell im Garten gestalten hat, als Bodenplatte für den Tisch. Ein richtig schönes Mosaik im Garten.
17:17
Ob die Pflastersteine in Hausnähe eine Funktion haben? Vielleicht geben sie mehr nach, wenn die Häuser sich setzen? – ja, könnte sein. Noch 5 Min, die Zeit vergeht schnell. Das Kaffeearoma ruft, es duftet so lecker und intensiv.
17:18
Ich bin zusammengekauert auf dem Höckerchen und zwinge mich, meine attention auf die Steine zu richten. Die Gedanken sind auch laut, wie das Sehen, Hören und Riechen. Sie sind so langweilig, dass ich sie nicht mal genau in den Blick nehmen mag, die meisten sind mausgrau, einige wenige rötlich und wieder andere, wenige fast schwarz. Innerlich sehe ich die Männerhände, die, am Boden kniend, die Steine verlegen, pflastern. Ob sie vielleicht all ihre Liebe dem Pflastern gewidmet haben statt ihren Frauen?
17:19
Sie scheinen schon lange zu liegen, alt, wer da schon alles drüber gelaufen ist? Wer stopft die Löcher? Was, wenn man da rein tritt und – Unfall?! Mir könnte das durchaus passieren. Die liegen hier einfach ru, rahmen den Boden bzw. Schließen die Erde ab und sind der Raum unter meinen Füßen.
17:21
Hier riecht es nach Schimmel, irgendwo eine schimmelige Zitrone oder Apfelsine.
Anregung / Idee:
Fahr zum Leopoldplatz U9, geh in Richtung Nazarethkirche und spür mal den Boden unter Deinen Füßen. Das kannst Du natürlich überall in Berlin machen. Wie fühlen sich Pflastersteine an, wie Betonboden und nimm wahr, wie du Deine Füße aufsetzt und wohin Dein Blick geht. Laß Dich nicht ablenken, bleib bei Dir. Wenn Du magst, such Dir einen Pflasterstein aus, der Dich besonders anspricht, vielleicht hat er Dir etwas zu sagen. Schreib all Deine Entdeckungen unten in die Kommentare.